Vor mir auf dem Schreibtisch liegt die aktuelle Ausgabe der NZ, Neue Zeitschrift für Musik #2_2025, welche mir als Belegexemplar zugesandt wurde. Auf Seite 10 ein Nachruf von Werner Klüppelholz mit dem Titel „Herbert Henck ist tot“.
Herbert Henck wird in der medialen Öffentlichkeit stets in seiner Rolle als Pianist genannt und thematisiert, welcher sich der „Neuen Musik“ gewidmet hat. Soundsoviele Schallplatten hätte er eingespielt, Werke von diesen und jenen Komponisten interpretiert, sich als Musikwissenschaftler und Forscher betätigt.
Herbert ist ein Name. Und all die Betitelungen, wer er angeblich sei, ebenso. Benennungen.
Als ich kurze Zeit nach dem Anruf aus dem Pflegeheim mit der Nachricht, mein Mann sei ohne Vitalzeichen in seinem Zimmer aufgefunden worden, dort eintraf, sagte ich beim Anblick seines Körpers zur Pflegerin: Das ist er nicht mehr.
Vor mir lag eine Leiche. Ganz sicher nicht Herbert Henck. Sein Name steht auf Totenschein und Sterbeurkunde. Das Land der Dichter und Denker, Juristen und Bürokraten besteht auf solche Dokumentationen.
Es macht offenbar Freude, sich mit dem Tod zu befassen, was wird ihm nicht alles zugeschrieben und angedichtet. Dabei sterben wir alle in jedem Moment. Nichts ist von Bestand. Keine einzige Zelle in unserem Körper. Alles ist ein stetes Stirb und Werde.
Der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki bemerkte einmal in einer Fernsehsendung mit dem Titel „Das literarische Quartett“, dass Männer die besseren Dramaturgen seien. Dem stimme ich nicht zu. Ich kenne ebenso viele Dramaqueens wie -kings. Aber Reich-Ranicki war ein Mann mit riesigem „Ego“. Das sich entsprechend seiner Egoverliebtheit mit dem Mannsbild identifizierte und aufzuwerten suchte. In Gedanken.
„Einer der letzten Texte, die Henck dem Fortschreiten tückischer Krankheiten noch abringen konnte, beschließt (unter dem Titel »Totentanz eines Tausendfüßlers«) seine Autobiografie.“, schreibt der Autor Werner Klüppelholz am Ende seines Artikels.
Genau genommen handelt es sich hier um eine von 22 Erzählungen, die Herbert unter dem Titel „Autobiografische Texte“ auf seiner Homepage veröffentlichte. Er hat immer schon viel und sehr gerne geschrieben. Manche Texte holte er später hervor, um sie zu überarbeiten und, wenn überhaupt, erst dann für außenstehende Leser verfügbar zu machen. Von einem Abringen kann keine Rede sein. Das Schreiben, mehr noch Denken und Dichten, war Herberts Lebensinhalt: Sein ganzes Leben! Und wie so viele Dichter und Denker vernachlässigte er dabei die Wahrnehmung, Darstellung und Anerkennung der Realität. Er lebte in seiner eigenen Kopfwelt, fantastischen Blase, blendete virtuos aus, was ihm nicht ins Konzept passte, oder bekämpfte es voller Hass, als hätte es keine Daseinsberechtigung.
„Ich will dich nicht verstehen“, brüllte er mir einmal direkt ins Gesicht, als ich ihm eine schlichte real nachvollziehbare Tatsache zu erklären versuchte, die für seine Existenz grundlegend war.
Was mag es tatsächlich mit dem Tausendfüßler auf sich (gehabt) haben?
Ich bin nicht nur Zeit-, sondern auch Ortszeugin. Während unserer ersten Jahre Anfang der 90er gehörte das Entfachen von Lagerfeuern zu Herberts Lieblingsbeschäftigungen. Ich habe dabei nie gesehen, wie er sich auf die Lippen biss. Dies tat er erst an einem seiner letzten Lebenstage, als er offenbar beschlossen hatte, die Nahrungsaufnahme zu verweigern. Sichtbar demonstrativ beim Anreichen eines mit Jogurt gefüllten Löffels. Eine bewusst vollzogene Handlung. Man, zumindest ich, konnte ihm regelrecht beim Denken zuschauen.
Mit ebenso planmäßiger Sorgfalt legte er seinen Körper zurecht, bevor er sich konsequent aus ihm entfernte.
„Je mehr Henck schrieb, desto deutlicher wurde (mir), dass in diesem Pianisten – gänzlich unbemerkt – auch ein bedeutender Schriftsteller steckte“, merkt der Autor des Artikels an.
Ja, so vieles lässt sich deuten, umdeuten, andeuten, alles bedeutet irgendetwas, sobald es von wem auch immer irgendwie gedeutet wird.
Der „als Person bescheidene und allürenfreie Herbert Henck“ wusste seine Unbescheidenheit virtuos zu verbergen. Bis zu seinem letzten Atemzug in einem Körper, dem durch seine Fantasie keine Flügel gewachsen waren.
Herbert Henck ist ebenso wenig tot wie der Tausendfüßler. Wird das Drama der Menschheit je ein Ende finden?
Jutta Riedel-Henck, 12. Juni 2025